Oft werden Fragen zur Ausbildung von Stickern und Stickerei-Ingenieuren gestellt. Hier gibt es im Vergleich mit anderen Textilbranchen einige Besonderheiten. Warum?
Typisch für das Stickereigewerbe war stets eine dezentrale, hausindustrielle Produktionsweise. So gab es im 19. Jhd. viele kleine Familienbetriebe die Zuschnitt, Stickerei und Konfektion bis zum Fertigprodukt besorgten. Der Vertrieb war die Aufgabe von Händlern und Verlegern. Daran änderte auch die zunehmende Automatisierung und der Übergang zu einer Stickerei- und Spitzenindustrie mit einem weltweiten Vertriebsnetz wenig (1). Man spricht in der Stickereiindustrie von einer hohen Wertschöpfung bei geringer Fertigungstiefe.
Das Wissen und die Erfahrungen in der Fertigung von Spitzen und Stickereien wurden in den vielen, meist kleinen Familienbetrieben gehalten und nur an die eigenen Kinder oder vertrauenswürdige Mitarbeiter weitergegeben. Es galt das Prinzip „Lernen durch Handeln“. Dazu kam, dass die Nachfrage bei Spitzen und Stickereien starken Schwankungen unterworfen ist, die unmittelbar von der Mode abhängen. Damit musste man schnell und flexibel auf Marktbedürfnisse reagieren. Längere Planungs- oder Ausbildungszeiten waren da eher hinderlich.
Die Folge war, dass es eine staatlich anerkannte Ausbildung in der ersten Hälfte des 20. Jhd. nicht gab. Die wichtigsten Erfahrungsträger in der Stickereiindustrie waren der Stickmeister, der Stickmaschinenmonteur und der Puncher. Sie bestimmten, an wen welches Wissen weitergegeben wird. Eine Erscheinung, die übrigens in allen europäischen Stickereizentren ähnlich war.
Diese Situation änderte sich erst in den 1950er Jahren mit der Umstrukturierung der Stickereiindustrie in der DDR. Auslöser waren die zunehmende Verstaatlichung der Betriebe und der Übergang zur sozialistischen Planwirtschaft. Die Stickereibetriebe blieben zwar dezentral, wurden nun jedoch zentral geleitet. Dies verlangte nach einer planvollen, kontinuierlichen Produktion und damit zu qualifiziertem Fachpersonal. So wurde nun eine Ausbildung zum Stickereifacharbeiter (nach 1990 Schmucktextilienhersteller) eingeführt.
Gleichzeitig begann 1957 erstmalig ein 3jähriger Studiengang für Textilingenieure in der Fachrichtung Stickerei an der Ingenieurschule Reichenbach. Die Vertiefungsrichtung Stickerei war mit den Fächern „Stickereikunde“, „Stilkunde“, „Spitzenkunde“ und „Technologie der Stickerei“ belegt.
Anfänglich trat bei der Ingenieur-Ausbildung ein unerwartetes Problem zu tage; denn trotz des empirischen Wissens vieler Fachleute gab es keine Fachschullehrer mit einer höheren Ausbildung in der Stickerei.
Nach zahlreichen, auch politischen Querelen wurde der gebürtige Schweizer Friedrich Schöner (1908-2005) als Gastdozent eingesetzt. Er war in der Lage, die Themen Spitze und Stickerei einschließlich seinem Spezialgebiet Stilkunde umfassend zu vermitteln. Für das Fach „Technologie der Stickerei“ konnte der junge Konstrukteur für Textilmaschinen Rudolf Franke gewonnen werden.
Es wurden insgesamt drei Jahrgänge von Stickerei-Ingenieuren ausgebildet. Der letzte Jahrgang verließ 1963 die Ingenieurschule. Im erst Jahrgang 1957 schlossen 10 Studenten die Ausbildung erfolgreich ab. In den folgenden Jahrgängen dürften ähnlich viele Abschlüsse erzielt worden sein (2).
Was bleibt? Die ausgebildeten Stickerei-Ingenieure bestimmten in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich die Produktion, die Forschung- und Entwicklung sowie die Aus- und Weiterbildung in der Stickerei- und Spitzenindustrie. Es entstand u.a. der Fachausschuss „Stickerei“ in der Kammer der Technik (KdT), der regelmäßig Fachtagungen veranstaltete. Bekannt sind auch die Lehrbögen, die 1964 vom Fachbuchverlag Leipzig herausgegeben wurden. Dozenten und Absolventen veröffentlichten in den Folgejahren zahlreiche Fachpublikationen und Patentanmeldungen.
Nicht zuletzt schrieben der Dozent Friedrich Schöner und der Absolvent Klaus Freier (1935-1997) Fachbücher, die bis heute im deutschsprachigen Raum als Standardwerke der Stickerei und Spitze gelten. Erinnert sei hier an die großen Monographien: „Spitzen“ von Friedrich Schöner und „Stickerei“ ebenfalls von Schöner sowie „Technologie und Erzeugnislehre Stickerei“ von Klaus Freier und „Stickereitechniken“ von Schöner und Freier.
Klaus Freier lehrte in den 1970er und 80iger Jahren als Berufsschullehrer an der Berufsschule der Plauener Gardine, Dobenaustraße 80.
Literatur:
(1) Frank Luft: Die sächsische Spitzen- und Stickereiindustrie um 1900 – eine typische Hausindustrie?, in Sachsen und das Rheinland – zwei Industrieregionen im Vergleich, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens Bd. 14, 2021, Hrsg. Sächs. Wirtschaftsarchiv e.V.
(2) Lothar Bühring: Historisches und Zeitzeugenbetrachtungen zum Aufbau der Fachrichtung Stickerei an der Ingenieurschule Reichenbach/V. 1957, unveröffentlichtes Manuskript
Für die Anregung sowie sachdienliche Hinweise zu diesem Beitrag danken wir Lothar Bühring und Gerhard Lungwitz.